Seit 1996 ist der 27. Januar der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – ein bundesweiter Gedenktag, der von Bundespräsident Roman Herzog am 3. Januar 1996 proklamiert und festgelegt wurde. An diesem Tag wurde 1945 das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit. Fast zehn Jahre nach der Proklamation Herzogs, im Jahr 2005, erklärten die Vereinten Nationen diesen Tag zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“. Seitdem wird er nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern jedes Jahr am 27. Januar begangen, um derer zu gedenken, die durch das nationalsozialistische Regime entrechtet, verfolgt, gequält oder ermordet wurden.
Das Datum des Gedenkens ist symbolisch. Im Lagerkomplex Auschwitz wurden fast eine Million Juden ermordet, am 27. Januar wird jedoch aller Opfer der nationalsozialistischen Terrorherrschaft gedacht. Insgesamt starben in den Jahren 1940-1945 fast sieben Millionen Menschen (Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, im NS-Jargon sogenannte Asoziale, Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, die im Rahmen des Euthanasie-Programms T4 ermordet wurden, politische Verfolgte und Mitglieder von Widerstandsorganisationen aus ganz Europa) durch die NS-Herrschaft.
In den Akten des Archivs der KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund ist nachweisbar, dass der 27. Januar als Gedenktag ab 1998 kontinuierlich in Ladelund begangen wurde. Die Bandbreite der Vorträge und Veranstaltungen ist beachtlich. Den ersten nachweisbaren Vortrag hielt am 27. Januar 1998 Prof. Uwe Dankert über den „Judenmord im Ostland“. Es folgten Vorträge zu Täter*innen, dem System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Sinti und Roma als Opfer von Verfolgung und viele andere. Weil die KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund von der Nordkirche bzw. ihrer Vorgängerinstitution, der Nordelbischen Kirche, getragen wurde und wird, spielten kirchliche Themen in den Vorträgen immer wieder eine Rolle. So hielt der ehemalige Pastor Ladelunds, Harald Richter, im Januar 2012 einen Vortrag über die „Kirchliche Gedenkstättenarbeit in Ladelund“. Auch das „Altonaer Bekenntnis“ (2013), die Thematik des Kirchenasyls (2016) oder die „Karriere“ des Viöler Gemeindepastors Johann Peperkorn (2005 – „Vom Gemeindepastor in Viöl zum NSDAP Kreisleiter in Niebüll“) spielten eine Rolle neben Themen der Verfolgung und Ermordung des jüdischen Bevölkerungsteils (2006, 2015), der Behandlung von Homosexuellen (2007) und Zeugen Jehovas (2009) im Nationalsozialismus und der Tötung von Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen (2011). Aktuelle Entwicklungen fanden ihren Niederschlag in den Veranstaltungen, so wurde ab 2014 immer wieder über neue rechtsextreme oder antisemitische Tendenzen referiert. Über das Thema „Widerstand“ sprach 2010 Frank Lubowitz, als er über den „Nordschleswiger Jens Jessen im bürgerlichen Widerstand gegen Hitler“ berichtete.
In diesem Jahr ist vieles anders. 2020 waren zum Vortrag von Klaus Kellmann über 70 Personen in der KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund versammelt. Der Vortragsraum und das Foyer waren voller Menschen. Im Jahr 2021 ist das nicht möglich. Wir müssen zur Eindämmung der Corona-Pandemie Abstand voneinander halten; die KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte ist seit November 2020 erneut geschlossen und Veranstaltungen sind nicht möglich. Das Gedenken am 27. Januar wird trotzdem stattfinden. Pastor Hans-Joachim Stuck wird mit der Leiterin der KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte, Katja Happe, im Laufe des Vormittags Blumen an den Gräbern der in Ladelund 1944 gestorbenen Männer niederlegen.
Wer möchte, kann an diesem Tag gerne zu den Gräbern kommen und der Opfer des Nationalsozialismus gedenken.
Wir werden Kerzen aufstellen, um dem Gedenken einen würdigen Rahmen zu geben. Die Erinnerung wach zu halten und trotz der aktuellen Einschränkungen allen die Möglichkeit zu geben, an diesem Tag der in Ladelund Gestorbenen und aller anderen Opfer der NS-Terrorherrschaft zu gedenken, bleibt eine wichtige Aufgabe der KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte.
In diesem Jahr war ursprünglich eine Veranstaltung mit Quinka Stoehr im Kino in Leck geplant. Dort hätten wir gerne den Film „Stumpfe Sense, scharfer Stahl“ über die Geschichte der Landvolkbewegung gezeigt und mit der Filmemacherin diskutiert. Diese Veranstaltung muss wegen der Corona-Einschränkungen auf einen späteren Termin verschoben werden. Über unsere Homepage und die lokale und regionale Presse werden wir den neuen Termin (hoffentlich im Mai oder Juni) bekanntgeben.
Trotzdem möchten wir allen Interessierten auch in diesem Jahr ein Thema aus der Gedenkstättenarbeit vorstellen.
Im Moment bildet die Erarbeitung neuer Biografien und die Recherche nach weiteren Lebensgeschichten der im KZ Ladelund ermordeten Männer einen Schwerpunkt der Arbeit. Über die Männer aus Putten, die unschuldig nach dem Anschlag am 2. Oktober 1944 aus dem Ort deportiert wurden und von denen ein Großteil in Ladelund ums Leben kam, ist relativ viel bekannt, auch dank der intensiven Forschungen von Pieter Dekker und der Stichting Oktober ’44. Aber weil aus insgesamt zwölf Nationen Gefangene im KZ Ladelund ums Leben kamen, ist es ein Anliegen der Gedenkstättenarbeit, auch den Lebensweg von Männern aus anderen Nationen nachzuzeichnen.
Deshalb möchte ich Ihnen heute Jean-Paul Depalle vorstellen:
Der Franzose wurde am 21. September 1888 geboren und lebte in La Chabanne, einem kleinen Dorf in der Nähe von Vichy und Clermont-Ferrand. Seine Familie mit fünf Kindern wohnte auf einem abgelegenen Bauernhof und bewirtschaftete diesen.
1975, vor mittlerweile fast 46 Jahren kamen zwei der Töchter von Jean-Paul Depalle zum ersten Mal nach Ladelund und besuchten das Grab ihres Vaters. Eine der Töchter, Jean-Claude Mercier, beschrieb diesen Besuch und die freundliche Aufnahme durch Pastor Richter. Sie hinterließ im Archiv der KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte einen Bericht über das Leben ihres Vaters, seine Verhaftung und die Geschichte der Familie.
Der Bauernhof der Familie war abgelegen und bot Widerstandskämpfern der französischen Résistance damit gute Versteckmöglichkeiten. Drei der insgesamt fünf Kinder lebten 1944 noch auf dem Hof der Familie. Die Eltern engagierten sich aktiv in den Reihen des Widerstands. Auf dem Hof bzw. auf einem in der Nähe im Wald errichteten Lager fanden fast 40 Männer Unterschlupf, die nicht zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht werden wollten. Bei der Beschaffung von Lebensmitteln im nächsten Dorf wurde im Juli 1944 ein Mitglied der Gruppe von deutschen Soldaten verhaftet, die auf der Suche nach einem abgestürzten deutschen Flugzeug waren. Wenige Tage später erschienen deutsche Soldaten auf dem Hof. Es kam zu einer Schießerei, und die Deutschen verhafteten alle Personen, die sie auf dem Hof antrafen. Auch die auf dem Hof lebenden Kinder der Familie wurden in einem Versteck aufgespürt und zusammen mit ihren Eltern fortgebracht. Der Hof wurde geplündert, Lebensmittel mitgenommen und Tiere geschlachtet. Zum Abschluss wurde der Hof in Brand gesteckt.
Die beiden jüngeren Kinder wurden zusammen mit ihrer Mutter im nächsten Ort freigelassen, sie kamen im Haus einer verheirateten Schwester unter und überlebten den Krieg. Der Vater, Jean-Paul Depalle, und der noch auf dem Hof lebende zwanzigjährige Sohn wurden deportiert und kehrten nicht nach Hause zurück. Jean-Paul Depalle kam vermutlich im November 1944 nach Ladelund. Am 11. Dezember 1944 wurde er von Pastor Johannes Meyer im neunten Grab der im KZ Ladelund getöteten Männer beerdigt. Über seinen Weg nach Ladelund ist bisher nichts bekannt genauso wenig wie der Sterbeort seines ebenfalls deportierten Sohnes. Es sind also auch bei der Geschichte von Jean-Paul Depalle noch viele Fragen offen, und es gibt noch viel zu untersuchen.
Was auf jeden Fall bleibt, ist der Bericht der jüngeren Tochter über den Besuch des Grabes ihres Vaters in Ladelund im Archiv der KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte. Sie schließt ihn mit den Worten „Ich habe den Bericht ohne Hass geschrieben […], man muss versuchen zu vergeben, sonst ist nichts möglich. Aber ein für alle Mal: ‚Nie wieder Krieg!‘“
Die Auszüge aus der Lebensgeschichte von Jean-Paul Depalle zeigen einen weiteren Aspekt der Geschichte des KZ Ladelund. Neben den vielen politischen Häftlingen, die als Strafmaßnahme nach dem Anschlag in Putten hierher deportiert worden waren, wissen wir mittlerweile, dass es in Ladelund mit Abraham Duits auch einen jüdischen Häftling gegeben hat, der hier ermordet wurde, und mit Jean-Paul Depalle ein Mitglied des französischen Widerstands, der das Lager nicht überlebte. Der Holocaust mit seinen verschiedenen Facetten, der Bestrafung, Erniedrigung, Ausbeutung und Ermordung ganz unterschiedlicher Gruppen von Menschen hat auch in einem so kleinen Konzentrationslager wie Ladelund stattgefunden. Ein Grund mehr, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Januar ein Gesteck an den Gräbern niederzulegen und an die Ermordeten dieser Zeit zu erinnern.