Auf den Bronzeplatten bei den Gräbern findet man den Namen Zawadzki nicht! Nicht unter den getöteten Häftlingen aus Polen (denn Zawadzki wurde in Polen geboren), noch unter den Opfern aus Frankreich, wohin er als kleiner Junge mit seinen Eltern ausgewandert war. Warum erinnern wir dann aber dennoch an ihn als einen der im KZ Ladelund getöteten Männer?
Sein Name findet sich in den Listen der Getöteten und auch auf der mittleren Bronzeplatte hinter den Gräbern, auf der die Namen der Opfer aus Polen stehen. Allerdings nicht unter dem Namen Zawadziki, sondern „Zawalki“.
Woran liegt das? Vermutlich ist die falsche Schreibweise des Namens bei der Registrierung von Stefan Zawadzki im Lager entstanden. Die Häftlinge mussten ihre Namen sagen und je nachdem, was die Schreiber bei der Registratur verstanden, wurde ein „falscher“ Name aufgeschrieben. Gerade bei Namen polnischen Ursprungs führte dieses „phonetische“ Festhalten des Namens oft zu falschen Schreibweisen der Namen. Im Jahr 1950, als die Bronzetafeln hinter den Gräbern erstellt wurden, gab es nur wenig Kontakte zu den Angehörigen der Opfer. Falsche Namensschreibweisen konnten deshalb nicht korrigiert werden.
Als die Angehörigen von Stefan Zawadzki aus Frankreich im Frühjahr 2020 Kontakt mit der KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte aufnahmen, war dies eine der ersten Fragen und Hinweise. Die Familie war nach dem Ende des Krieges lange Zeit im Ungewissen darüber geblieben, was mit Stefan Zawadzki passiert war. Erst 2003 erfuhr die Familie, dass Stefan Zawadzki in einem deutschen KZ ums Leben gekommen war. Und erst 2019 konnte die Familie mit Hilfe der Arolsen Archives ermitteln, dass er in Ladelund gestorben war und auch hier begraben wurde. Nach der ersten Kontaktaufnahme im letzten Jahr begann die Familie genauso wie das Team der KZ Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund mit den Planungen für einen Besuch der Familie. Nach Verschiebungen des Besuchs durch die Corona-Situation war es im September 2021 dann endlich so weit: Die jüngste Tochter von Stefan Zawadzki konnte das Grab ihres Vaters in Ladelund besuchen.
Zusammen mit ihrem Ehemann, zwei ihrer Kinder und deren Ehepartnern sowie einem ihrer Enkel konnte Lucie Bournoville nach 77 Jahren am Grab ihres Vaters in Ladelund stehen. Für alle Beteiligten, besonders aber natürlich für Lucie Bournoville, war dies ein bewegender Moment. Für Lucie Bournoville bedeutete dieser Besuch einen Abschluss und ein Ende der Ungewissheit, was mit ihrem Vater nach dessen Deportation passiert war. Nun gibt es einen Ort, an dem sie und auch ihre Familie trauern und sich an Stefan Zawadzki erinnern und an ihn denken können.
Für die KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund sind die Besuche von Angehörigen immer ein besonderer Moment. Auf der einen Seite geht es um die Möglichkeit für die Angehörigen, wie bei Lucie Bournoville, einen Abschluss zu finden und an einem Grab trauern zu können. Die Kommunikation mit den Angehörigen, das Erzählen über das Leben der Toten und ihrer Familie, der Besuch des ehemaligen Lagergeländes, des Panzerabwehrgrabens und die Bemühungen der KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund, die Erinnerung an das Geschehene wach zu halten und den Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben an die jüngeren Generationen weiterzugeben, gibt auf der anderen Seite gleichzeitig den Anlass zu Versöhnung, zu gegenseitigem Kennenlernen und Verstehen.
Beim Besuch der Familie Bournoville in Ladelund hat beides stattgefunden. Die Trauer an den Gräbern und das gemeinsame Gespräch. Zur besseren Verständigung haben drei Übersetzer:innen beigetragen, für deren Anwesenheit wir immens dankbar waren. Und auch ein ökumenischer Gottesdienst in der St. Petri Kirche, der von einem katholischen Priester für alle Anwesenden gefeiert wurde, war für Lucie Bournoville und ihre Familie eine große Hilfe an diesem Tag.
Nach diesem Bericht über den Besuch der Familie Bournoville aber noch kurz zur Lebensgeschichte von Stefan Zawadzki:
Stefan heiratete 1917 im damaligen Polen Stefania Stamborska, die in derselben Gegend wie er geboren worden war. Ungefähr vier Jahre später wanderte die Familie nach Frankreich aus, wo Stefan Zawadzki zunächst im Bergbau arbeitete, bevor er einen Lebensmittelladen eröffnete. Die Familie wächst und die Eheleute bekommen vier Töchter und einen Sohn. 1934 wird Stefan Zawadzki französischer Staatsbürger.
1940 überfällt die Deutsche Wehrmacht Frankreich und besetzt den nördlichen Teil des Landes. In der Folge schließt sich Stefan Zawazki dem Widerstand gegen die deutschen Besatzer an. Er wird Mitglied des Netzwerks polnischer Widerstandskämpfer. Im Rahmen seiner Widerstandsaktionen verteilte er Flugblätter und verübte kleinere Sabotageakte. Zudem stellte er sein Haus für geheime Treffen des Widerstands zu Verfügung. Dort versteckte er auch eine geheime Funkausrüstung, mit der Informationen an die polnische Exilregierung in London übermittelt werden konnten. Am Abend des 3. August 1944 wird Stefan Zawadzki mit fast allen Mitgliedern seiner Familie verhaftet und in einem Gefängnis in der Nähe von Lille inhaftiert. Nach einem Monat kommen Mitglieder der Familie frei. Stefan und der Funker Leon Zapała werden jedoch am 1. September 1944 (Stefans Geburtstag) nach Deutschland deportiert. Er kommt zunächst in das KZ Sachenhausen, Mitte Oktober dann in das KZ Neuengamme. Von dort wird er Anfang November 1944 in das KZ Ladelund deportiert. An den Entbehrungen durch die schwere Arbeit und die schlechte Versorgung stirbt Stefan Zawadzki am 30. November 1944 in Ladelund und wird durch Pastor Meyer neben der Kirche St. Petri bestattet.