Die politische Andacht zur Jahreslosung “Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ fand am 14. März 2022 in der Kirche St. Petri in Ladelund statt.
Die Finanzministerin des Landes Schleswig-Holstein, Frau Monika Heinold, war zu Gast in Ladelund. Vor der Politischen Andacht besuchte sie die KZ Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund und die Gräber der im KZ Ladelund ermordeten Männer.
Die Rede, die Frau Heinold in der Kirche hielt, findet sich im Folgenden:
Liebe Gemeinde, liebe Gäste, meine Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung zur politischen Andacht.
Als ich zugesagt habe, war für niemanden von uns klar, in welchem Ausnahmezustand
sich Europa in diesem März befinden würde.
Wir alle waren – Anfang des Jahres – noch mit Corona beschäftigt, auch wenn wir der Dominanz des Themas längst überdrüssig waren.
Wir freuten uns auf den Frühling. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging,
aber ich dachte zum Jahresbeginn: Aber diesmal wirklich – 2022 werden wir endlich
wieder an die Normalität anknüpfen können. Freunde treffen, unbeschwert feiern,
Familienbesuche ohne Maske und ohne Test. Zurück ins alte Leben.
Und heute?
Nicht nur, dass die Pandemie noch immer nicht vorbei ist, dass die Zahlen steigen,
dass noch immer Menschen – täglich und weltweit – an den Folgen der Pandemie sterben.
Nun ist auch noch der Krieg – mitten in Europa.
Ein russischer Angriffskrieg in der Ukraine, ein Krieg gegen Menschenrechte, gegen Meinungsfreiheit und gegen Demokratie. Ein Krieg, der Leid und Elend mit sich bringt.
Und plötzlich relativieren sich die Corona-Maßnahmen der letzten beiden Jahre.
Die Maßnahmen, die viele von uns als hart empfunden hatten. Die Maßnahmen, die uns gezwungen hatten, auf Reisen, auf Feiern zu verzichten.
Mit der oft als störend empfundenen Maske einzukaufen. An den Test zu denken,
bevor die Mutter im Altersheim besucht werden konnte. All diese Maßnahmen hatten wir als hart – zumindest aber als störend – empfunden. Und wir hatten gesagt: Wir wollen unser altes Leben zurückhaben.
Und jetzt?
Wir wollten unser altes Leben zurück, und hatten dabei gar nicht gemerkt, wie viel wir von unserem alten Leben noch hatten.
Hatten nicht realisiert, was es heißen kann, tatsächlich sein altes Leben komplett zu verlieren.
Merken erst jetzt, dass die Selbstverständlichkeit in Frieden leben zu dürfen, nicht selbstverständlich ist.
Mitten in Europa ist Krieg. Leid, Tod, Zerstörung. Tausende von Menschen sind auf der Flucht. Suchen einen Zufluchtsort.
Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.
Es könnte wohl kaum eine passendere Jahreslosung geben als diese. Sie beschreibt schnörkellos, was jetzt zu tun ist. Menschen aufnehmen, statt sie abzuweisen. Ohne zu fragen, wie viele es sein werden. Ohne zu fragen, wie lange sie bleiben. Ohne zu fragen, wie es gehen soll. Wo wir Wohnraum für sie finden, wie Kitas und Schulen die Herausforderung meisten können. Erzieher*innen, die in den letzten beiden Jahren schon so viel geleistet haben. Lehrkräfte, die gehofft hatten, dass nach Corona, nach dem digitalen Lernen, endlich Normalität in den Schulalltag zurückkehrt.
Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.
Die Jahreslosung beschreibt die Herausforderung, vor der wir stehen, und sie beschreibt zugleich, was gerade in unserem Land – aber auch in ganz Europa – passiert: In Frankreich und Polen, in der Moldau und in Ungarn: Menschen helfen Menschen. Sammeln Geld und Sachspenden, organisieren Hilfskonvois, bieten privat Unterkünfte an, richten Schlafplätze her, beziehen Betten. Für Familie, für Freunde und Bekannte, die alles haben zurücklassen müssen: Heimat, Hab und Gut, vielleicht kranke Verwandte – und vor allem: Ihre Söhne, Männer, Väter, Brüder, Freunde.
Und sie beziehen das Bett auch für Unbekannte: Sie fahren zur Grenze, um Hilfesuchende mit nach Hause zu nehmen, stehen an Bahnhöfen, um eine Unterkunft, eine Dusche, eine warme Mahlzeit anzubieten. An Orten, in denen nicht geschossen wird.
Menschen öffnen Ihre Türen: „Ich werde Dich nicht abweisen!“
Die Jahreslosung besteht gerade den Praxistest.
Und auch Vereine, Kirchen und Wohlfahrtsverbände helfen erneut mit. Kommunen und Land packen gemeinsam an. Bauen auf, auf der Erfahrung, die wir alle gemeinsam 2015/16 gesammelt haben. Knüpfen an die große Aufnahmebereitschaft an, die wir damals – im Syrienkrieg – gezeigt haben. Nutzen damals geschaffene und noch immer vorhandene Strukturen: Unterkünfte für die Erstaufnahme werden reaktiviert. DAZ-Unterricht zum Erlernen der Sprache in den Schulen ist eingeübt. Volkshochschulen, die Sprachkurse anbieten. Bürgermeisterinnen und Ministerpräsident*innen die sagen: Hier ist Platz! Wir organisieren das!
Und so wird der SH Landtag einen Nachtragshaushalt verabschieden, mit dem klargemacht wird: Bei uns wird Humanität nicht am Geld scheitern so wie 2015 und 2016!
Viele packen mit an.
Hier in Schleswig-Holstein.
In einem Land, in dem tausende von Menschen wohnen, deren eigene Familien Flucht und Vertreibung erlebt haben. Und wir erleben, dass Erinnerungen wieder aufflammen.
Bittere Erinnerungen. Dass Verdrängtes plötzlich auftaucht. Dass sich Kinder und Enkel daran erinnern, welche Geschichten Eltern und Großeltern erzählt haben. Aus einer Zeit traumatisierender Fluchterfahrung über die viel zu wenig gesprochen wurde. Auch aus Scham. Weil es schwer war, für das Geschehene Worte zu finden. Und aus einem Krieg und aus Elternhäusern, wo Täter Jahrzehnte geschwiegen haben. Aus einem Krieg, in dem die SS hier im KZ Außenlager in Ladelund mehr als 2000 Häftlinge einpferchte, bei bitterer Kälte auf dem nackten Boden schliefen ließ. Brutal behandelte, mit unzureichender Versorgung
und katastrophalen sanitären Bedingungen. Menschen starben. Mitten im Alltag. Mitten zwischen uns. Auf der Homepage der Gedenkstätte heißt es: Niemand im Dorf konnte die Qualen der zur Arbeit getriebenen, hungernden Menschen übersehen. Und doch haben viele weggesehen. Und Jahrzehnte geschwiegen.
Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.
Die Geschichten unserer Eltern und Großeltern erzählen anderes. Sie erzählen von der Aufnahme von Flüchtlingen nach dem Krieg, die oftmals nicht freiwillig geschah. Flüchtlinge wurden zugewiesen, Wohnraum musste ungefragt geteilt werden. In einer Zeit von Armut und Bitterkeit, in der es schwer war, Gastfreundschaft zu leben. Und dennoch gibt es auch die Guten Geschichten. Von Hilfe und Mitgefühl. Geschichten von Menschen, die ein hohes Risiko eigegangen sind, um andere zu schützen. Wo geholfen und Brot geteilt wurde. Trotz eigener Not.
Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.
Das ist nicht immer leicht zu leben. Oftmals hängt es von den eigenen Lebensumständen ab.
Umso wichtiger ist es zu erkennen, welch Privileg es ist, Hilfsbereitschaft leben zu können, Teilen zu können, ohne dass es zu schmerzhaften Einschränkungen unseres eigenen Lebens führt. Das ist ein großes Geschenk. Erkennen wir dieses und machen mit. Fragen wir uns,
was wir dazu beitragen können, dass aus dieser Zeit – aus dem Frühjahr 2022 hier in Schleswig-Holstein – später erzählt wird: Wir haben die Menschen nicht abgewiesen.
So wie 2015/16: Als über eine Million Flüchtlinge, Migranten und Schutzsuchende nach Deutschland kamen. Wirtschaft und Politik, Vereine, Verbände und Kirchen mit angepackt haben. Das war großartig. Das hat gutgetan. Und tut noch immer gut. Macht Mut.
Und wo immer ich in diesen Tagen auf andere treffe, niemanden lässt Putins Krieg,
niemanden lässt das Schicksal der Menschen in der Ukraine, der Kinder, Frauen und Männer kalt. Viele wollen helfen. Suchen eine Möglichkeit, helfen zu können. Etwas machen zu können. Suchen die Gemeinschaft, auch um gegen ihre eigenen Ängste anzukämpfen,
brauchen das Gespräch, den Austausch. Auch in und mit der Kirche.
Etwas tun können, gegen das Gefühl der Ohnmacht, und für die Hoffnung, dass der Krieg schnell endet. Und dann taucht immer wieder die Frage auf: Was hilft wirklich?
Vor wenigen Tagen traf ich den 17jährigen Max. Er lebt in Schleswig-Holstein, seine Großeltern in der Ukraine. Und dann erzählte er. Von seiner Mutter, die am Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine weinend zu ihm ans Bett kam. Über die Telefonate mit seinen Großeltern, die Fotos schickten. Mitten aus dem Krieg. Über Telefonate in denen es um Angst ging, und um das pure Überleben. Ohne Strom und ohne Wasser. Und über den Mut der Ukrainerinnen, die nicht aufgeben ihr Land, ihre Freiheit zu verteidigen. All das erzählte Max.
Diese Geschichten drücken einem die Kehle zu. Treiben einem Tränen in die Augen.
Eine solch direkte Schilderung ist intensiv – noch intensiver und noch schwerer zu ertragen als die vielen schrecklichen Fernsehbilder. Und dann sagte der junge Max: Was meinen Großeltern Hoffnung gibt, ist, dass die Menschen weltweit Solidarität mit der Ukraine zeigen.
Dass sie auf die Straße gehen und für Demokratie kämpfen.
Hoffnung. Das ist es, was die Menschen brauchen.
Glaube. Daran, dass es Hoffnung gibt.
Zuversicht, dass es gelingen kann. Dass der Krieg ein Ende hat.
Hoffnung. Glaube. Zuversicht. Menschen suchen Halt. Finden ihn im Glauben, in Freundschaften, in der Familie im Engagement für unsere Gesellschaft.
Unterschiedliche Herangehensweisen, die alle ihren Platz und ihre Berechtigung haben.
Ich habe Respekt vor Menschen, die nicht wegschauen. Die mit anpacken, die nicht abweisen.
In diesen Tagen gilt mein Respekt aber vor allem denjenigen mutigen Menschen in der Ukraine, die sich dem Angriffskrieg von Putin widersetzen. Und mein Respekt gilt auch Denjenigen, die in Moskau und anderorts in Russland auf der Straße gehen, die gegen Putin, gegen den Krieg protestieren. Es sind nicht „die Russen“, die den Angriffskrieg führen.
Es gibt so viele Menschen in Russland, die sich nach Freiheit und Demokratie und vor allem nach Frieden sehen. Die um ihre toten Söhne und Männer trauern, die ihr Leben in diesem sinnlosen Krieg verloren haben. Dieser Angriffskrieg ist Putins Krieg. Und jede und jeder möge ich selbst prüfen, sich die Frage stellen, wie weit wir selbst bereit wären, in einer solchen Situation auf die Straße zu gehen. Das Risiko einzugehen, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen, wenn es das eigene Leben kosten kann. Was sind wir selbst bereit einzusetzen, um mitzuhelfen, den Krieg zu beenden? Welche Einschränkungen sind wir bereit in Kauf zu nehmen, damit Deutschland weniger Gas, Kohle und Öl aus Russland kaufen muss? Welche Preissteigerungen können wir verkraften, sind wir bereit an der Tankstelle zu akzeptieren? Welchen Beitrag zur Energieeinsparung können und wollen wir leisten?
Sind wir bereit unseren eigenen Wohnraum zu teilen, um Menschen aufzunehmen?
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“
Ein kleiner Satz aus dem Johannes Evangelium, im sechsten Kapitel, der nicht nur hoch aktuell, sondern auch hoch politisch ist. Denn wenn wir ehrlich sind, dann wissen wir:
Es gibt sehr viele Menschen, die wir schon abgewiesen haben. Wir haben Menschen privat zurückgewiesen, vielleicht, weil es uns gerade zu viel wurde, gerade nicht passte. Weil es zu anstrengend gewesen wäre. Oder auch weil wir einfach Zeit und Ruhe für uns selbst brauchten. Und jedes Argument hat seine Berechtigung. Aber auch als Gesellschaft weisen wir immer wieder viele Menschen ab. Grenzen werden nicht geöffnet, Flüchtlinge werden nicht aufgenommen, Asylbewerber zurückgeschickt. Bootsflüchtlinge nicht gerettet. Und ertrinken. Wir weisen zurück, aus Angst davor, dass es uns als Gesellschaft überfordern würde. Aus Angst davor, dass es zu Viele werden könnten. Dass es unser eigenes Leben einschränkt. Aus Angst vor Fremdem. Es fehlt die Bereitschaft zu teilen. Es fehlt das Vertrauen, dass es gelingen kann. Vertrauen beruht auf Erfahrung, aber auch auf Hoffnung und auf Glauben. Und deshalb ist es vermutlich kein Zufall, dass sich gerade Kirchen derart konsequent in der Flüchtlingspolitik engagieren. Dass sie Asyl bieten. Dass sie sich in der „Eine Welt Politik“ engagieren. Partnerschaften aufbauen und ganz konkret helfen. Mit dem Bau von Brunnen, von Schulen und mit Hilfe zur Selbsthilfe.
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ – die Jahreslosung klingt bedingungslos. Vielleicht hatte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel genau diesen Bibelvers vor Augen, als sie 2015 sagte: Wir schaffen das. Eine Aussage, die motiviert hat mitzumachen, mitzuhelfen. Und unsere Gesellschaft hat es versucht. Die Grenzen waren offen, unsere Arme waren offen. Und dann sind wir irgendwie doch gestrandet. Die Willkommenswelle ließ nach, Hass und Hetze der Rechtspopulisten wurden lauter. Die AfD zog in die Parlamente ein. Auch in den Schleswig-Holsteinischen Landtag. Und jede Rede der AFD im Landtag hat nur ein Thema: Wir werden Euch abweisen. Euch die ihr anders seid, Euch die ihr zu uns kommt. Euch, die ihr Schutz sucht. Und wir sind es, wir als demokratische Gesellschaft, müssen im Sinne der Jahreslosung sagen:
Wenn Menschen zu uns kommen, wenn sie Hilfe brauchen, werden wir sie nicht abweisen.
Wissend, dass wir dieses vermutlich nicht vollständig leben können. Es wird weiterhin Grenzen geben. Geben müssen. Begrenzung geben. Abweisungen geben. Im Rahmen der gesetzten Regeln. Und es ist schwer, und es wird schwer bleiben, die Linie zu ziehen. Muss schwer bleiben, denn Abweisung darf niemals leichtfertig geschehen. Aber für diese differenzierte Betrachtung ist heute der falsche Tag. Putin hat einen Angriffskrieg begonnen,
der das gesamte europäische Sicherheitsgefüge in Gefahr bringt. Er hat internationales Vertrauen zerstört, Wirtschaftsbeziehungen abrupt beendet, Menschen ihre Heimat genommen, Tod und Leid nicht nur in die Ukraine gebracht.
Deshalb muss es jetzt an die Ukrainer*innen gerichtet heißen:
„Wir werden Euch nicht abweisen“
Wir öffnen unsere Häuser,
wir organisieren Kita und Schule.
Wir nehmen Kranke und Verletzte auf.
Und wir gehen auf die Straße, um Eure und unsere Demokratie zu verteidigen.
Wir stehen zu den verhängten Sanktionen und machen uns schrittweise und möglichst schnell von der russischen Energieversorgung unabhängig.
Und wir liefern Euch Waffen, auch wenn das nicht auf unserer Agenda stand.
Wir machen das, weil ihr für Demokratie und Unabhängigkeit kämpft.
Und weil in der Charta der vereinten Nationen das Recht auf Selbstverteidigung festgeschrieben wurde.
Es ist eine Zeitenwende.
Dieses Wort beschreibt die Realität.
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“
Schön, dass es diese Jahreslosung gibt. Sie ist ein klares Bekenntnis. Jetzt ist es Zeit, dieses bedingungslos zu leben.
Wir bedanken uns bei allen Beteiligten, die die Politische Andacht zur Jahreslosung mit Frau Heinold möglich gemacht haben.